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Gesellschaftliche Resilienz in der Coronakrise und darüber hinaus

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Gesellschaftliche Resilienz in der Coronakrise und darüber hinaus
Gesellschaftliche Resilienz in der Coronakrise und darüber hinaus - © Clark Tibbs on Unsplash

Die Coronakrise hält die Welt in Atem. Ende März 2020 sind nahezu alle Länder weltweit direkt von der Pandemie betroffen. Die besondere Tragweite des Coronavirus (SARS-CoV-2) liegt weniger an der Tödlichkeit der von ihm ausgelösten Atemwegserkrankung COVID-19 – es ist vielmehr die hohe Ansteckungsgefahr. Bei unkontrollierter Ausbreitung könnte COVID-19 – so die verbreitete Einschätzung – zu einer völligen Überlastung der Gesundheitssysteme und einer ähnlich hohen Anzahl von Todesopfern, wie der Spanischen Grippe vor 100 Jahren führen. Schätzungen zufolge wären das 20 bis 40 Millionen Menschenleben. Die Coronakrise aber geht auch mit weitreichenden ökonomischen, sozialen, politischen und psychischen Folgen einher.

Was zeichnet gesellschaftliche Resilienz, sprich die gesellschaftliche Fähigkeit, souverän mit Krisen umzugehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen, aus? Welche über die Pandemie hinausgehenden Risiken, aber womöglich auch Chancen, deuten sich an?

Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie

Sofern es nicht zuvor gelingt, einen Impfstoff zu entwickeln, rechnen Expertinnen und Experten erst dann mit einem Ende der Pandemie, sobald etwa 60-70 Prozent der Weltbevölkerung die Infektion durchgemacht und dadurch kollektive Immunität entwickelt hat. Wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, hängt maßgeblich davon ab, welche weiteren politischen Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie gesetzt werden. Die Strategie besteht darin, die Pandemie einzudämmen (etwa durch breit angelegte Testung, frühzeitiges Identifizieren von infizierten Personen und Infektionsketten), sie abzuwehren (etwa durch Kontaktreduktion, Schließung öffentlicher Einrichtungen) oder zumindest zu verlangsamen (Lockdown). Kernziel ist dabei, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und damit die Zahl von Todesopfern so niedrig wie möglich zu halten. Im internationalen Überblick zeigt sich die Wirksamkeit der Maßnahmen am Beispiel der pandemieerfahrenen Staaten Ost- und Südostasiens. Obwohl China ihr geografischer Ausgangspunkt ist, ging die Ausbreitung der Pandemie vergleichsweise langsamer vonstatten als im Westen.

All diese Maßnahmen scheinen sich in Einzelfällen mehr oder minder bewährt zu haben, sind jedoch auch Gegenstand von Kritik. So werden nicht nur Effektivität und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen angezweifelt, sondern auch auf die vielfältigen sozialen, psychischen und ökonomischen Kosten für die Bevölkerung hingewiesen. Wie die beste Pandemiestrategie konkret aussehen könnte, ist von vielfältigen situations- und landesspezifischen Rahmenbedingungen abhängig. Ungeachtet dessen gibt es durchaus verallgemeinerbare Orientierungsprinzipien, die zum Design effektiver Lösungsstrategien beitragen können. Diese Prinzipien – wie unten noch näher zu erläutern – sind so angelegt, dass sie auf völlig unterschiedliche gesellschaftliche Herausforderungen anwendbar sind. Dies ist insofern sinnvoll, als die Pandemie nicht die einzige Krise ist, denen sich die Weltgemeinschaft stellen muss.

Wenn es nur die Coronakrise wäre…

Die Coronakrise birgt nicht nur vielfältige Nebenfolgen, sie ist zugleich nicht die einzige globale Herausforderung, die heute und in naher Zukunft ansteht. So zählt der Global Risk Report von 2019 und 2020 die Folgen des Klimawandels zu den „wahrscheinlichsten“ und „gefährlichsten“ der kommenden Krisen.

In Relation gesehen, sind noch weitaus schlimmere Szenarien als die Coronakrise möglich. Denkbar wäre unter anderem ein länger andauernder großflächiger Zusammenbruch der kritischen Infrastrukturen etwa der Versorgung mit Wasser, Strom, Nahrung und Internet, infolge von Naturkatastrophen oder Cyberangriffen. Zudem ist im Zuge des fortschreitenden Klimawandels die Ausbreitung weiterer Krankheiten wahrscheinlich, die sich als weitaus gefährlicher als COVID-19 erweisen könnten. So geht der Oxford-Professor Peter Frankopan von einer weltweiten Ausbreitung etablierter Tropenkrankheiten, wie Malaria oder Ebola sowie der Rückkehr alter Krankheiten, wie Pocken oder der Pest, in nicht allzu ferner Zukunft aus.

Die gegenwärtige Krise ließe sich also durchaus als Chance begreifen, Erfahrungswissen zu sammeln, um sich gegenüber kommenden, weitaus gefährlicheren Szenarien zu wappnen. Globale Kooperationsformen könnten ausgebaut, bestehende Pandemiepläne und Krisenkommunikationsstrategien mit Blick auf Best Practices systematisch verbessert werden. Die Coronakrise kann und sollte auch genutzt werden, gesellschaftliche „Multiresilienz“ zu entwickeln – also die Fähigkeit, mit vielfältigen, auch unterschiedlichen Krisen souverän umzugehen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen.

Vier Orientierungsprinzipien gesellschaftlicher „Multiresilienz“

Eine Schwäche der gegenwärtigen Diskussion rund um gesellschaftliche Resilienz besteht darin, dass sie nur auf einzelne Krisenarten eingeht. Dabei wird vernachlässigt, dass die internationale Gemeinschaft im 21. Jahrhundert zunehmend komplexe Bündel von Krisen bewältigen müssen wird. Eine mögliche Antwort hierauf könnte „Multiresilienz“ liefern. Dieser Ansatz zielt darauf ab, „Grundrobustheit“ aufzubauen, die Gesellschaften in völlig unterschiedlichen Krisenkontexten reaktions- und problemlösungsfähiger macht. Erste allgemeine Orientierungsprinzipien erschließen sich aus einer tieferen, systemischen Betrachtungsebene[1]:

  • Prinzip 1: Dezentrale vs. zentralistische Entscheidungsfindung und -umsetzung

Jede Form des Krisenmanagements geht mit der Kunst einher, zeitnah gute, gemeinsam getragene Entscheidungen zu treffen. Aus Sicht der Managementkybernetik ist hierfür ein Systemaufbau erforderlich, der dezentrale und zentralistische Elemente zusammenführt[2]. Die Coronakrise bietet Gelegenheit, entsprechende Strukturen auszubauen. So wird in diesem Zusammenhang beobachtet, dass zentralistisch regierte Länder, wie etwa China, Italien oder Frankreich, vergleichsweise einheitlicher und schneller in der Umsetzung von Maßnahmen sind, die das gesamte Land betreffen, als föderalistische Systeme wie die Bundesrepublik Deutschland.

Föderale Eigenständigkeiten haben hingegen den Vorteil, dass sie schnelle Handlungsfähigkeit und angemessene lokale Entscheidungen ermöglichen. Christian Drosten zufolge sei Deutschland bei der Corona-Bekämpfung durch dezentrale Labore „früh dran“ gewesen und dadurch vor Ort effektiver und reaktionsfähiger. Diese Überlegungen stellen sich auch im Kontext internationaler Kooperation, etwa auf EU- und UN-Ebene, als Grundlage staatenübergreifend koordinierter Krisenbewältigungsstrategien. Die Coronakrise könnte und sollte dazu genutzt werden, entsprechende Kooperationsformen auszubauen und politische Integration voranzutreiben.

  • Prinzip 2: Kollektive Intelligenz

Kollektive Intelligenz ist die Kunst, auf komplexe Probleme gemeinsam passende Lösungen zu finden. Dabei gilt aus systemischer Sicht: Je mehr unterschiedliche Sichtweisen der betroffenen Akteure integriert werden, umso besser werden die Lösungen. Kollektive Intelligenz ist nicht nur nötig, um vergangene Erfahrungen systematisch auszuwerten und daraus Best Practices zu entwickeln. Sie wird vor allem auch gebraucht, um in völlig neuen Krisensituationen, wie der Coronakrise, innovative Lösungen zu entwickeln, zu testen und zu modifizieren. Als eine aktuelle Maßnahme, die kollektive Intelligenz zur innovativen Problemlösung systematisch nutzt, erweist sich das „#WirvsVirus“-Hackathon.

Ein Hackathon ist ein Designwettbewerb, bei dem Teilnehmende innerhalb weniger Tage versuchen, Aufgaben zu lösen. An #WirvsVirus nahmen 42.000 Teilnehmende teil. Sie reichten Probleme ein, die durch die Coronakrise entstehen und für die Lösungen entwickelt werden sollten. Die Organisatoren identifizierten die vielversprechendsten Vorschläge und sortierten sie in Kategorien, wie beispielsweise Erfassung und Übermittlung neuer Infektionsfälle, Verteilung von Hilfsmitteln, Nachbarschaftsunterstützung. Solche und ähnliche Maßnahmen der Wissensintegration sollten und könnten systematischer, auch in staatenübergreifenden Konstellationen umgesetzt werden.

    • Prinzip 3: Kollektiver Zusammenhalt

    Jede kollektive Krisenbewältigung geht auch mit „weichen“ Aspekten einher, die aus der kollektiven Psyche hervorgehen. Dies beinhaltet ein gemeinsames Bewusstsein darüber, „an einem Strang zu ziehen“. Der sich hieraus ergebende kollektive Zusammenhalt ist nicht nur grundlegend, um sich direkt bei anstehenden Herausforderungen zu unterstützen. Er hilft auch, politische Maßnahmen, „von unten“ umzusetzen. In Vietnam zeigte sich dies unter anderem in der Funktion der Nachbarschaftskomitees. Neben der Unterstützung hilfebedürftiger Personen, übten sie vor allem in der Anfangsphase der Pandemie soziale Kontrolle aus, um Infizierte aufzuspüren und die Einhaltung der Kontakt- und Hygienevorschriften zu gewährleisten.

    Weitere solidaritätsfördernde Beispiele finden sich in Singapur: So verzichteten der Staatschef sowie alle Minister und sämtlichen Abgeordneten auf ein Monatsgehalt zugunsten der sogenannten „Helden“, die in systemrelevanten Berufen tätig sind, wie Kassierer, Krankenpflegerinnen, Putzkräfte oder Taxifahrer. Auch auf internationaler Ebene erweist sich das Prinzip des kollektiven Zusammenhalts als wesentlich im Umgang mit künftigen globalen Herausforderungen. In der aktuellen Coronakrise zeigte sich in der EU bislang Optimierungsbedarf.

    • Prinzip 4: Individuelle Resilienz

    Der Vollständigkeit halber sei die grundlegendste Systemkomponente gesellschaftlicher Krisenbewältigung erwähnt – die psychische Resilienz der betroffenen Bürger. Diese beinhaltet vor allem die Fähigkeit, mit eigenem Stress umzugehen und besonnen zu handeln. Politischem Aktionismus und panischem Herdenverhalten könnte damit effektiver vorgebeugt werden. Eine hierfür erforderliche Kernkompetenz ist die Fähigkeit, stressige Gedanken und Wahrnehmungen (auch als Resultat der „kommunikativen Riesenwellen“[3] in den Medien) und Gefühle (wie etwa Angst und Frustration) regulieren zu können. Psychische Widerstandsfähigkeit lässt sich lernen und könnte systematischer in die Bildungspolitik integriert werden.

    Diese vier Orientierungsprinzipien lassen sich nicht nur krisenübergreifend, sondern auch über den Kontext nationaler Gesellschaften hinausdenken. Gesellschaftliche Herausforderungen im 21. Jahrhundert sind zunehmend komplex und von jeher global. Dies erfordert globales Denken und entsprechend effektive Kooperationsformen im Rahmen einer Weltgesellschaft. Lernerfahrungen aus der Coronakrise könnten dabei unterstützen, die resiliente Weltgesellschaft voranzutreiben.


    Karim Fathi, Zukunftskreis des BMBF Karim Fathi lebt in Berlin und ist beratend, forschend und lehrend vor allem zu den Themen „Resilienz“ und „kommunikatives Komplexitätsmanagement“ tätig. Unter anderem ist er Mitglied im Zukunftskreis des BMBF und der European School of Governance und Partner mehrerer Beratungsorganisationen, wie der DENKBANK, der Organisation PROTECTIVES und der von ihm mitbegründeten Akademie für Empathie.

     

    [1] Weiterführende und tiefergehende Informationen über diese Orientierungsprinzipien finden sich unter: Fathi, K. (2019): Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit – Anforderungen an gesellschaftliche Zukunftssicherung im 21. Jahrhundert. Springer Verlag
    [2] Malik, F. (2000): Strategie des Managements komplexer Systeme. Haupt, Bern / Stuttgart / Wien
    [3] Diesen Begriff hat die Systemtheoretikerin Gitta Peyn geprägt.

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    Citation

    https://doi.org/10.57708/b6601107
    Fathi, K. Gesellschaftliche Resilienz in der Coronakrise und darüber hinaus. https://doi.org/10.57708/B6601107

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